Der Band enthält folgende Erzählungen
- Frau Griese
- Der Schneider
- Die Handtasche
- Die blaue Fackel
- Der Magier
- In der Gekrümmten Gasse
- Das Wartezimmer
- Der Diamant
- Dämmerung
- Fräulein Karuß
Leseproben:
Der Schneider
Darüber hinaus hatte es dem Teufel gefallen, sie mit großer Schönheit zu begaben. Ihre Augen strahlten, sie hatte volle Lippen, ihr Haar war pechschwarz, und sie tat, was immer notwendig war, um diese Pracht zur Geltung zu bringen. Das Schneiderlein vergoß sein Blut für wohlriechende Wässer, teure Seifen und farbige Stifte, mit denen sie ihr Gesicht bemalte. Einen Schrank voll herrlicher Kleider hatte er ihr nähen müssen, in denen sie gleich einem Edelstein funkelte und blitzte, und wenn sie sich herbeiließ, gemeinsam mit ihm auf die Straße zu treten, bildete ihre Köstlichkeit einen schroffen Gegensatz zu dem eingeschrumpften Männlein an ihrer Seite.
Freilich hatte Bebel so viel zu arbeiten, daß er die Werkstatt kaum verließ und recht eigentlich in ihr wohnte, zumal es ihm verboten war, die anderen Räume des Hauses zu betreten. Nur am späten Abend durfte er hervorkommen, um seiner Frau das Haar zu bürsten und ihre erstaunlich rasch nachgewachsenen Nägel zu schneiden. War dies getan, mußte er in die Werkstatt zurückkehren und sich auf dem Schneidertisch zur Ruhe legen, während Una ihn einsperrte und den Schlüssel zweimal umdrehte.
Die Handtasche
"Es wird dunkel.""Ich hab' Hunger, Felix."
"Wollen die gar nicht mehr aus dem Zimmer kommen?"
"Vielleicht sind sie böse auf uns."
"Es ist ganz still da drin."
"Vielleicht schlafen sie noch. Vielleicht sind sie einfach nicht aufgewacht und haben den ganzen Tag geschlafen."
"Den ganzen Tag?"
"Ich glaub', sie sind krank!"
"Ja, das kann sein."
"Ob wir mal klopfen?"
"Das dürfen wir nicht. Mama sagt: 'Wenn die Tür zu ist, ist sie zu.' Willst du, daß sie uns verprügelt?"
"Aber es wird schon nacht!"
"Kann sein, daß sie gar nicht da sind."
"Sie haben uns alleingelassen? Warum?"
"Ich weiß nicht."
"Was machst du, Felix?"
"Pst! Sei still!"
"Sind sie da?"
"Ich hör' nichts."
"Was, wenn die Mama uns nicht mehr mag und sich andere Kinder geholt hat?"
"Andere Kinder, Bea?"
"Wenn sie uns umtauschen will."
"Du spinnst. Und außerdem – – Hast du das gehört?"
"Ja! Das war eins von den neuen Kindern!"
"Quatsch!"
"Ein Auto kommt und bringt uns fort, in ein Heim, wo all die Kinder wohnen, die man umgetauscht hat. Mama hat mir davon erzählt."
In der Gekrümmten Gasse
Vaters Auto hielt vor dem Haus, ich erkannte das Geräusch des Motors, ein tiefes Knurren, in das sich das Scheppern des Auspuffs mischte. Zwei Stunden hatte ich auf der Treppe gesessen, seit ich von der Schule heimgekommen war und eine Nachbarin mir die Haustür geöffnet hatte. Ich lief zum Eingang und spähte durch das vergitterte Fenster hinaus. Das Auto lärmte, ein sicheres Zeichen, daß heute kein guter Tag sei. Der Opel stieß in die Parklücke, während Vater mit rotem Kopf hinterm Steuer saß und am Lenkrad kurbelte. Mama hatte wie immer auf dem Beifahrersitz Platz genommen, geduckt und mit zusammengepreßten Lippen, eine Einkaufstüte auf dem Schoß. Der Wagen rollte vor und zurück, bis er in der Lücke stand.
Vater griff nach der Zeitung, die auf dem Armaturenbrett lag, stieg aus
und warf die Tür zu. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß. Das Haar hatte
sich von der Stirn zurückgezogen, und sein Mund war so schmal, daß es
schien, als habe man ihm die Öffnung mit einem feinen Messer in die Haut
geschnitten.
"Brauchst du eine extra Einladung?" fragte er.
Mama beeilte sich, aus dem Wagen zu kommen. Sie trug ein grünes, mit
Blüten besticktes Kleid, Überbleibsel einer anderen Zeit, an die ich
mich schon damals nicht mehr erinnern konnte. Nur ein Haus mit braunen
Schindeln und ein Garten, in dem eine blaue Schaukel stand, sind mir im
Gedächtnis geblieben, und daß mein Vater damals einen goldfarbenen
Mercedes fuhr, der gutmütig schnurrte.
"Wie blöd bist du? Mach' die Tür richtig zu!" schimpfte er, klemmte die
Zeitung unter seinen Arm und hinkte um das Fahrzeug herum. Er öffnete
die Beifahrertür erneut und knallte sie zu.
Ich trat auf die Straße. Ich wollte die Eltern freundlich begrüßen, denn manchmal gelang es mir, einen Streit zu beenden, indem ich lachte und ein gutes Mädchen war.
Vater antwortete nicht, Mama schaute zu Boden, und schweigend gingen wir ins Haus.
Unsere Wohnung lag im Erdgeschoß. Über einen kurzen Flur gelangte man
ins Wohnzimmer, das eine Eßecke enthielt, einen zerkratzten Couchtisch,
einen Fernseher, ein graues Sofa, das nach Hund roch, und rote,
überweiche Sessel, die nur aus Schaumgummi zu bestehen schienen und
deren Nähte in regelmäßigen Abständen mit Zwirn geflickt wurden. An
jedem Möbelstück hatten die Vorbesitzer Flecken und Schrammen
zurückgelassen.
Das Zimmer war dunkel, zum einen, weil die Wohnung nach Norden ging und kein Sonnenlicht in die Gekrümmte Gasse fiel; zum anderen war den Eltern der Gedanke zuwider, daß irgendein Mensch sich nur auf eine Kiste zu stellen brauchte, um vom Gehweg aus in ihre Räume hineinzusehen. Die Gardinen waren aus blickdichtem Stoff gefertigt, und abends wurde, ehe man das Licht einschaltete, sorgfältig ein dicker Vorhang vor die Scheiben gezogen.
Vom Wohnzimmer aus erreichte man drei Räume: eine Tür führte in die
Küche, eine andere ins Schlafzimmer der Eltern; hinter der dritten lag
die winzige Abstellkammer, in der das Ungeheuer lebte.
Das Wartezimmer
"Schreiben Sie bitte Ihren Namen auf diesen Zettel, Madame."
Dominique Créneau ergriff den Kugelschreiber, der mit einem Stück Zwirn
an der Theke befestigt war, notierte, wie sie hieß, in großen, deutlich
lesbaren Buchstaben und reichte das Papier zurück.
"Sehr schön", lobte die Dame auf der anderen Seite der Theke, nachdem
sie einen flüchtigen Blick auf den Zettel geworfen und ihn auf einen
Nagel gespießt hatte, der von unten her ihren Tisch durchbohrte.
Sie war vielleicht vierzig Jahre alt, hatte blondierte Locken und einen
verkniffenen Mund, der sich gleich einem schiefen Strich durch ihr
dickliches Gesicht zog. Sie roch nach Zigaretten und der Wurstsemmel,
die, halb aufgegessen, vor ihr lag. Madame Créneau entging nicht, daß
sie zwischen ihren Sätzen kaute und schluckte. Neben dem Tellerchen mit
der Semmel stand ein gefüllter Aschenbecher, dessen grauer Staub sich
über den ganzen Tisch verteilt hatte.
"Wollen Sie Ihrer Aussage noch etwas hinzufügen?" fragte die Angestellte. "Sind Ihnen vielleicht weitere Details eingefallen, die Sie uns mitteilen möchten?"
Madame Créneau schüttelte den Kopf.
"Überlegen Sie sich's."
"Ich habe jede Einzelheit zu Protokoll gegeben", versicherte Madame.
Die Blondine strich sich ein paar Krümel von der Brust.
"Wie Sie meinen. Die Bearbeitung braucht natürlich etwas Zeit. Nehmen Sie solange im Wartezimmer Platz."
Fräulein Karuß
Der Kartoffelbauer lenkte seinen Wagen in den Innenhof. Jede Woche erschien er und machte mit einer großen Glocke auf sich aufmerksam, die er minutenlang schellen ließ.
Er war fett und trug eine grobe, braune Hose, an der immer Erde haftete. Seinen Oberkörper bedeckte ein kurzärmeliger, gelbbrauner Pullover, der aber den runden Bauch nicht gänzlich zu bekleiden vermochte und über der Hose ringsum einen handbreiten Spalt blanker Haut sehen ließ. Das gelbe Haar hatte er nach hinten gekämmt, und die Zähne standen ihm schief und lückenhaft im Mund, was jedermann sehen konnte, sooft er gähnte. Er stellte sich neben die Pritsche und rief mit lauter, mißtönender Stimme seine Ware aus.
Vor drei Jahrzehnten hatte er sich bis zum Wahnsinn mit Alkohol
vergiftet und im Rausch seine Familie umgebracht: Vater und Mutter, die
Ehefrau und beide Kinder, deren Leichen er anschließend auf seinem Acker
verscharrt hatte. Für diese Tat war er zu zwanzig Jahren Gefängnis
verurteilt worden.
Es dauerte einige Minuten, bis die ersten Frauen ihre Wohnung verließen
und mit Eimern und Körben versehen das Treppenhaus hinabstiegen.
Frau Krapp erschien als erste. Sie trug eine gelbe Kittelschürze, unter der ihre Beine kurz und dick hervorschauten. Die Füße steckten in alten Halbschuhen, und wenn sie schwatzte, verschränkte sie die Arme und legte sie auf ihrem Busen ab, als sei er ein prall gestopftes Kissen.
Der Bauer füllte ihren Eimer, nahm hierfür einige Münzen in Empfang und warf sie in eine Blechschachtel, die ihm als Kasse diente. Schon hatte sich vor seinem Lastwagen eine Schlange von Frauen gebildet, unter denen Fräulein Karuß als einzige keine Schürze trug, sondern eine weiße Bluse und einen sehr engen, langen Rock aus schwarzem Leder. Sie war fünfundzwanzig und hatte pechschwarzes Haar. Ihre Augen schauten durch eine strenge Brille.
Um den Schein zu wahren, arbeitete sie drei Tage die Woche als
Sekretärin. Ihr Vater, ein ehemaliger Religionslehrer, der vom
Lebenswandel seiner Tochter durch einen anonymen Brief erfahren hatte,
war eines Tags unangemeldet in ihrer Wohnung erschienen, als sie eben
dabei gewesen war, sich einem ihrer Gönner erkenntlich zu zeigen. Die
Auseinandersetzung verlief jedoch anders, als ich erwartet hatte: Die
schöne Katharina lachte ihren Vater aus. Sie war keineswegs erschrocken
darüber, von ihm ertappt worden zu sein, und dachte nicht im Traum
daran, einen Schlußstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen, wie er
forderte. Stattdessen küßte sie den ältlichen Bankier, der bei ihr lag,
auf den Mund. Ihr Vater stolperte das Treppenhaus hinab. Noch im Hof
hörte er das Gelächter seines Kinds, dessen Grausamkeit mich
faszinierte.
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