Der Behandler
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Textauszug 1:
Das Wasser am Grund des Brunnenschachts stank nach Fäulnis und Verwesung. Darunter mischte sich der kupferne Geruch nach frischem Blut. Ihrem Blut. Ironischerweise hatte Ashwa sich ihre Kopfverletzung nicht beim Sturz in den drei oder vier Meter tiefen Schacht zugezogen, sondern war mit der Stirn gegen die Brunnenwand geknallt, als sie in ihrer Panik beim Aufstehen das Gleichgewicht verloren hatte.
Sie musste zusehen, dass sie schleunigst aus dem Wasser kam. Zwar reichte es ihr nur bis zur Hüfte, doch wer wusste schon, wie viele Mäuse und Frösche hier unten bereits verendet waren?
Da das Mondlicht kaum bis auf den Grund drang, konnte Ashwa, egal wie sehr sie sich bemühte, nichts erkennen, aber nun meinte sie, neben sich etwas gesehen zu haben.
Das Glühen zweier Augen. War das ein Tier, das auf sie zuschwamm?
Wieder kroch die Panik in ihr hoch, denn mit einem Mal glaubte sie, mit Bestimmtheit vorhersehen zu können, was geschehen würde. Mit letzter Kraft würde eine Ratte, die in den Brunnen gefallen war und seit Stunden aufgeregt umherschwamm, an ihr hochspringen und sich an ihr festkrallen, vielleicht sogar in sie verbeißen, in der Hoffnung, mit ihr wieder nach oben zu gelangen.
Ashwa wagte nicht, sich zu bewegen, wagte kaum zu atmen, als etwas ihre Finger streifte ...
Textauszug 2:
Die Tote lag am flach auslaufenden Ufer. Bis auf ein grobes Leinentuch, das ihren Unterleib bedeckte, war sie nackt; ihre Haut hatte einen kräftigen, dunklen Cremeton; den Schädel hatte man ihr kahl rasiert; neben ihr eine Tasche sowie ein ordentlich aufgefalteter Stapel Kleidung. Würde die Sonne höher am Himmel stehen, hätte man bei beiläufiger Betrachtung annehmen können, die junge Frau hätte sich zum Sonnenbaden an den See gelegt.
»Der Täter hat keinen Versuch unternommen, die Leiche zu verstecken«, dachte Falk laut nach. »Er hat sie auch nicht einfach abgelegt. Im Gegenteil: Er hat sie drapiert.«
Die dünnen grauen Haare von Falk Bachmanns Vater standen wild nach allen Seiten ab. Seine wächserne Haut wirkte im Mondlicht, das durch einen Spalt zwischen den Vorhängen ins Zimmer fiel, noch fahler als bei Tag.
»Was willst du hier?«, fragte der Alte. Da das Kopfteil des Bettes, eines dieser monströsen Pflegeheimbetten mit Galgen und Haltegriff, hochgefahren war, musste sein Vater sich nicht aufsetzen, um Falk anzufunkeln. »Es ist mitten in der Nacht. Verschwinde, oder ich rufe eine der Pflegerinnen. Die machen dir Feuer unterm Arsch.«
Falk verdrehte die Augen, was einen ersten Anflug von Kopfschmerzen aufziehen ließ. »Erspar mir dein Gezeter«, sagte er und blickte sich um. Neben dem Bett, einer Anrichte und einem Nachtschrank mit ausklappbarem Tisch befanden sich nur noch ein paar alte Möbel seines Vaters in dem heruntergewohnten Zimmer. Es war verdammt trostlos.
Residenz am Huthpark schimpfte sich das Seniorenheim, in dem sein Vater seit einiger Zeit lebte, dabei hatte der dreigeschossige Kasten im Frankfurter Osten nichts mit einem herrschaftlichen Anwesen gemein, sah man von den gepfefferten Preisen einmal ab.
Verdammt, der Alte sieht mehr tot als lebendig aus, schoss es Falk durch den Kopf. Dabei hätte er längst an den Anblick gewöhnt sein müssen. Seit Monaten baute sein Vater ab, und seit mindestens genauso langer Zeit hatte er das Bett nicht mehr verlassen. Trotzdem weigerte sich der Drecksack, endlich abzukratzen. Was tue ich überhaupt hier? Und wie spät ist es?, überlegte Falk. Vier Uhr? Nein, eher fünf. Er blickte auf seine Armbanduhr, doch im Dunkeln konnte er die Zeiger nicht erkennen. In letzter Zeit machten ihm seine Augen sogar im Hellen manchmal Schwierigkeiten, trotzdem ging er nicht zum Optiker. Mit seinen dreiundvierzig Jahren fühlte er sich für eine Lesebrille noch zu jung.
»Was ist mit ihr passiert?«, stellte Falk die Frage, die er seinem Vater seit nunmehr sechsundzwanzig Jahren stellte, ohne je eine Antwort bekommen zu haben. Seine Stimme klang kratzig, die Zunge fühlte sich pelzig an, und der dumpfe Schmerz in seinem Kopf begann in ein Hämmern überzugehen. Die ersten Nachwehen des zurückliegenden Wochenendes. Doch noch zirkulierte genügend Wodka in seinen Adern, um dem Kater Einhalt zu gebieten, und der Alkohol war es auch gewesen, der ihn auf die abstruse Idee gebracht hatte, mitten in der Nacht ins Pflegeheim einzubrechen, um seinem Vater im Halbschlaf eine Antwort auf die Frage nach dem Verbleib seiner Mutter abzuringen.
»Bist du deshalb hergekommen?«, fauchte der Alte. Sein hagerer Körper bebte unter dem viel zu weiten Pyjamaoberteil, dessen dunkles Blau in starkem Kontrast zu den weißen Brusthaaren stand, die aus dem Kragen quollen. Obwohl er ausgemergelt bis auf die Knochen war und nichts mehr mit dem bulligen Hünen gemein hatte, den Falk und sein Bruder in ihrer Kindheit fürchten gelernt hatten, war seine Stimme noch erstaunlich kräftig: »Wann hörst du endlich mit den alten Geschichten auf? Deine Mutter, diese Schlampe, ist abgehauen. Ich weiß nicht, wo sie hin ist, und es geht mir auch an meinem faltigen Arsch vorbei.« Ein Husten rasselte in seiner Brust, und er griff nach dem Glas auf dem Nachttisch, doch es war leer. »Hol mir Wasser«, keuchte er.
»Ich glaube dir nicht«, erwiderte Falk und senkte die Stimme, als ihm bewusst wurde, dass der Wodka ihn hatte lauter werden lassen. »Sie ist nicht einfach weg.«
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Über den Autor:
Thomas Herzsprung lebt in Baden-Württemberg. Er studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Danach schlossen sich Stationen in Fernsehproduktionsfirmen und Chefredaktionen diverser Frauen- und Publikumszeitschriften an, bevor er sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Sein unter dem Namen Tommy Herzsprung veröffentlichter Roman »Forever - Solange wir uns halten« wurde 2019 mit dem LovelyBooks Leserpreis in Gold ausgezeichnet.
2018 gewann Herzsprungs Buch »Crazy Boys« den Skoutz-Award, im selben Jahr erhielt sein Liebesdrama »Fight to Love Again« den LovelyBooks Leserpreis in Bronze.
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